Antisemitismus in Kindertagesstätten: Schutz und Intervention

Marina Chernivsky und Romina Wiegemann

1. Kita als Handlungsfeld

Die Thematisierung von Antisemitismus in Kindertageseinrichtungen geht schnell mit der Frage einher, ob bzw. inwieweit Kinder antisemitisch sein“ können? Die verbreitete Skepsis darüber, dass Kindertagestätten Orte sind, an denen Antisemitismus auftritt, verweist auf ein enges Antisemitismusverständnis, das eher von vereinzelten Vorfällen oder Vorurteilen abgeleitet wird und die Eingebundenheit aller in strukturelle Kontinuitäten vernachlässigt (vgl. Chernivsky/​Lorenz 2020). So wird viel tendenziell davon ausgegangen, dass junge Kinder noch nicht in Antisemitismus involviert sind. Junge Kinder befinden sich aber nicht außerhalb der gesellschaftlichen Verhältnisse und greifen auf, was die Welt um sie herum vermittelt und worauf sie selbst in ihrem Alltag stoßen. Dazu zählen Sprachbilder, Vorstellungen, Zuschreibungen, die sie unbedacht übernehmen. Zusätzlich bestehen gerade im frühkindlichen Bereich Hinweise auf eine enge Verknüpfung zwischen der ersten Berührung mit Schoa und Nationalsozialismus sowie antisemitisch grundierten Narrativen, die mitunter familiär an Kinder implizit (der auch explizit) weitergereicht werden (vgl. Wiegemann 2022, bezugnehmend auf die Studien von Becher 2008 und Koch 2017).

Die besondere Sensibilität für die Auseinandersetzung mit Antisemitismus in der Kita ergibt sich nicht primär aus dem jungen Alter der zu Betreuenden (zu denen auch jüdische Kinder zählen), sondern aus dem Auftrag, der an die Einrichtungen frühkindlicher Bildung gerichtet wird. Kitas sind bedeutsame Lernorte und haben die genuine Aufgabe, die individuelle und soziale Entwicklung sowie die Identitäten der Kinder zu fördern, ihre körperliche und seelische Gesundheit zu stärken und emotionale, kognitive und soziale Kompetenzen zu erschließen. Außerdem sind junge Kinder grundsätzlich offen für Lern- und Veränderungsprozesse – es ist möglich und ratsam genau in diesem Alter anzufangen, Kinder für Einseitigkeiten und Ungerechtigkeiten zu sensibilisieren und ihre Inklusions- und Kommunikationskompetenzen zu fördern. Dabei kommt es in erster Linie nicht darauf an, wie Kinder sich verhalten, sondern darauf, wie Erwachsene sie in ihrem Lernprozess begleiten und ob oder wie die letzteren auf Probleme reagieren.

2. Alltag und Strukturen

Antisemitismus äußert sich in alltäglichen Situationen – durch offene, aber auch subtile antisemitische Sprachhandlungen, Rollenzuschreibungen und soziale Verortungen. Antisemitismus ist in den Strukturen der Gegenwartsgesellschaft tief eingelassen und wirkt in Form stiller (gelegentlich auch offener) Diskriminierung auch an Kitas weiter. Im System Kita sind unterschiedliche Akteur*innen-Gruppen miteinander verbunden – sie bewegen sich im strukturellen Rahmen von Landesverfassungen, Kultus- und Landesministerien, Jugendämtern und Aufsichtsbehörden. Diese strukturelle Ebene ist bedeutsam, denn sie nimmt Einfluss darauf, wie alle Beteiligten Antisemitismus verstehen, ob und wie sie (dagegen) handeln. Nicht nur unter Kindern, sondern auch bei Erzieher*innen, Eltern und Kitaleitungen können antisemitische Ressentiments angenommen und beobachtet werden (vgl. zu Rassismus in Kitas u.a. Bostanci 2022). Dabei ist Antisemitismus nicht nur auf der Ebene von vorsätzlichen, intentionalen Sprachhandlungen zu verorten, sondern als Resultat von (überpersönlichen), bürokratisch-administrativen, institutionellen Routinen, Regelwerken und Handlungsabläufen zu bewerten. Um wirksame Maßnahmen der Prävention, Intervention und Nachsorge bei Antisemitismus in Kitas einführen und implementieren zu können, ist es unumgänglich, sich damit eingehend zu befassen und auf dieser Grundlage zentrale Grundsätze antisemitismuskritischer Kitakultur zu erschließen.

3. Empirische Erkenntnisse

Die gegenwärtige Wahrnehmbarkeit von Antisemitismus steht in engem Zusammenhang mit medial geführten Debatten um einzelne Vorfälle. Es gibt jedoch zunehmend Forschung, die Antisemitismuserfahrungen im Lebenslauf von Jüdinnen und Juden wie auch in Bildungsinstitutionen auf eine belastbare empirische Basis stellt (hierzu u.a. Salzborn 2020: 9; Bernstein 2020; Chernivsky/​Lorenz/​Schweitzer 2022). Zu Antisemitismus in Kindertagestätten gibt es bislang wenig Forschung, aber einschlägige Feldexpertisen und Fallberichte aus der Beratung von Betroffenen (hierzu u.a. OFEK 2024).

Der aktuelle Forschungsstand verweist auf eine Bandbreite antisemitischer Gewalt und Diskriminierung im schulischen Kontext. Dabei geht es um unterschwellige Mikroaggressionen unter Kindern, um antisemitische Witze, Beleidigungen, Belästigungen, Übergriffe, aber auch um Ausschlusserfahrungen und Sorge um eine andere (schlechtere) Behandlung, wenn bekannt wird, dass der*die Schüler*in jüdisch ist. Hier ein Zitat aus der Bundesländerstudienreihe zu Antisemitismus im Kontext Schule 1:

muss an mehrere Situationen denken […] schon von der Grundschule her

(jüdische Schüler 1, Sachsen)2

Die Studienbefunde ergeben, dass die befragten Lehrkräfte antisemitische Situationen erkennen können, aber ihre Reaktion darauf von emotional-biografischer Distanz, Relativierungsschleifen und Unsicherheiten geprägt ist (vgl. Chernivsky/​Lorenz 2020: 82). Die Unentschlossenheit und Passivität von Lehrkräften stellen einen zentralen Befund im Umgang mit Antisemitismus dar (vgl. ebd.). Antisemitische Zeichnungen an Fassaden oder Gegenständen bleiben über längere Zeiträume stehen, auf Schimpfwörter oder vermeintliche Witze wird nicht reagiert, Beschwerdeversuche in ihrem Inhalt umgedeutet (vgl. Chernivsky/​Lorenz-Sinai 2024).

ich hab halt gemerkt – okay Antisemitismus (.) beziehungsweise (.) das ist halt irgendwie sowas (..) ich hab dann keine (.) keine (..) keine lebendige Beziehung sondern eher so eine distanzierte – ja es ist irgendwie schlecht aber ich weiß auch nicht wie ich damit umgehen kann

(Lehrkraft 5, Sachsen)3

Individualisierende Deutungen und Relativierungsschleifen normalisieren Antisemitismus in Bildungssettings (Chernivsky/​Lorenz 2020: 130). Deutungen wie – sie wissen nicht, was sie sagen“, oder das meinen sie doch nicht so!“ – reduzieren Antisemitismus auf individuelle Fehlhaltungen und überblenden seine strukturelle Dimension. Auf diese Weise entsteht der Eindruck, dass Antisemitismus im luftleeren Raum“ (ebd.: 88) entsteht und als Provokation gedacht oder als Selbstdarstellung oder sich‑, was Verbotenes zu tun und dieser Tabubruch wird da sicher gesucht“ ausagiert wird (ebd.: 112).

Fallberichte zu Antisemitismus in Kitas weisen Ähnlichkeiten mit den Schuldaten auf. Jüdische Kinder und vor allem Eltern sind potenziell dem Risiko ausgesetzt, sekundärantisemitische Adressierungen im Kitaalltag zu erfahren. Ein Teil der Beratungsfälle in der Kindertagesbetreuung bezieht sich auf antisemitische Sprache, Erfahrungen mangelnder Repräsentation, Zurückweisungen von Fallbeschwerden und Vertragskündigungen. Als Reaktion auf reale oder auch antizipierte Vorfälle entwickeln jüdische Familien kollektive Verhaltensmodi, die sicherheitsstiftend sind, sich aber dem Kontext anpassen. So beschreiben jüdische Eltern ihre Überlegungen, die jüdische Identität ihrer Kinder im sozialen Raum nicht zu zeigen. Im folgenden Zitat thematisiert ein Elternteil seine Erwägungen in Bezug auf den Schutz der eigenen Kinder. Er*Sie erwägt seine*ihre Kinder in eine jüdische Bildungseinrichtung zu geben und sagt:

die Frage ist ja nicht, ob sie (.) also das ist für mich nicht die Frage, ob sie antisemitisch beleidigt werden oder (.) mit Antisemitismus in Verbindung kommen (.) sondern die Frage ist für mich in welchem Ausmaß und wann.

Über die konkrete Vorfallsebene hinausgehend ist auch dem Präventionsgedanken im Hinblick auf das junge Alter der Zielgruppe spezifische Bedeutung beizumessen. Dafür scheint der Erwerb einer Kompetenz im Umgang mit Fragen von Kindern, die jüdische Lebenswirklichkeiten betreffen und zugleich auch die Vergangenheit und Antisemitismus berühren, gerade für den frühkindlichen Bereich von besonderer Bedeutung zu sein (vgl. Wiegemann 2022).

4. Rechtlicher Rahmen

Kinder sollen nicht nur vor expliziter Gewaltanwendung, Misshandlung und Verwahrlosung geschützt werden, sondern ebenso vor schlechter Behandlung“.4 Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) benutzt dabei den Begriff der Benachteiligung. Von Benachteiligung wird gesprochen, wenn eine Person aufgrund eines bestimmten Merkmals in einer vergleichbaren Situation schlechter behandelt wird als eine andere Person, ohne dass es dafür einen sachlichen Grund gibt. Im AGG werden sechs schutzwürdige Merkmale genannt. Dazu gehören ethnische Herkunft, Religion oder Weltanschauung, Behinderung, Alter, sexuelle Identität. Nicht alle Merkmale, die es zu schützen gilt, kommen im Gesetz vor; dieses sieht zudem vor allem den Schutz der Beschäftigten und nicht zwingend der Kinder vor. Bei Antisemitismus greift zudem das Merkmal der Religion zu kurz – Jüdinnen und Juden werden angegriffen, nicht weil sie der jüdischen Religion angehören oder religiös sind, sondern weil sie in der Wahrnehmung der Nicht-Juden jüdisch seien und dadurch mit antisemitischen Zuschreibungen versehen werden.

Im Kontext von Kitas ist die gesetzliche Regelung noch komplexer: Das AGG schützt bei privatrechtlichen Betreuungsverträgen in der Kindertagesbetreuung nur partiell.5 Ob und wie Eltern und Kinder vor Diskriminierung geschützt sind, hängt nicht zuletzt vom Träger der Betreuungseinrichtung ab und von der Art des Betreuungsverhältnisses.6

Um junge Kinder vor Diskriminierung zu schützen, ergeben sich Organisationspflichten für Kindertageseinrichtungen. Mit der Entwicklung und Implementierung von Schutzkonzepten soll idealtypisch ein Katalog mit präventiven Maßnahmen und Interventionsstrategien ausformuliert werden. Darin soll ein explizites Verbot von Diskriminierung festgehalten werden, das alle Diskriminierungsformen einbezieht und den Schutz der Betroffenen in Fokus rückt.

Folgende Formen von Diskriminierung treffen auch auf Antisemitismus zu:

Unmittelbare oder direkte Diskriminierung: eine (jüdische und/​oder als jüdisch wahrgenommene) Person erfährt aufgrund eines der geschützten Merkmale eine weniger günstige Behandlung als eine Vergleichsperson.

Mittelbare oder indirekte Diskriminierungen: sind scheinbar neutrale Verhaltensweisen, Vorschriften und Regelungen, die für alle Personen gelten, sich aber stärker benachteiligend auf bestimmte Gruppen – in diesem Fall Jüdinnen und Juden – auswirken.

Belästigung: Nach AGG geht es um unerwünschte Handlungen, die eine Person wegen eines der genannten Merkmale einschüchtern, beleidigen oder erniedrigen und dadurch ein feindliches Umfeld schaffen oder darauf abzielen. Auch Belästigungen können Teil von Mobbingprozessen sein.

Mobbing wird hier als würdeverletzende Handlung über einen längeren Zeitraum hinweg beschrieben, die dabei zielgerichtet und systematisch erfolgt und auf die Verletzung der persönlichen Integrität und Persönlichkeit abzielt. Mobbing kann direkt an eines der genannten Merkmale anknüpfen, es kann aber auch ohne Bezug zu diesen Merkmalen erfolgen.

5. Antisemitismuskritische Kita

5.1. Diversifizierung

Jede Kindertageseinrichtung kann sich durch eine Diversifizierung ihres Angebots an Büchern, Liedern, Ritualen, Spielen, Speisen und Festen oder auch durch die Gestaltung ihrer Räume und Lernumgebung antisemitismuskritisch ausrichten. Die Berücksichtigung einer potenziellen Präsenz von jüdischen Kindern ist Teil des Diversitätsverständnisses und zielt darauf ab, den Alltag in der Kita auch für jüdische Kinder inklusiv und diskriminierungsarm zu gestalten. Der Prozess einer antisemitismuskritischen Diversifizierung sollte im Dialog mit Kindern und Eltern jedoch nicht schematisch entlang großkultureller Narrative oder Metakonzepte erfolgen, sondern auf der Grundlage der jeweiligen Familientradition bzw. Familienbiografie erschlossen und im Kollegium implementiert werden. Um diesem Auftrag zu entsprechen ist die Reflexion über das je eigene Antisemitismusverständnis und die aktuellen fachlichen Diskurse sowohl auf der Ebene der Leitung als auch für die Fachkräfte unabdingbar, damit dieses Wissen auf den Kitaalltag übertragen werden kann. Das Ziel ist die Entwicklung einer antisemitismussensiblen Kinder‑, Eltern und Kitaarbeit, die (auch) jüdische Erfahrungen im Blick hat, die eigene Struktur weiterdenkt und durch Weiterbildung, Beratung, Intervision und Supervision begleitet und unterstützt wird. Die Qualitätssicherung der Antisemitismuskritik im Kitaalltag ist ein Prozess, der an einem Punkt beginnt, aber nicht abschließend nach einer Schulungsmaßnahme endet. Die Prozesshaftigkeit der antisemitismuskritischen Kitakultur geht Hand in Hand mit der Prävention von Diskriminierung jeder Form. Als zielführend erscheint die zusätzliche Beschäftigung mit den verschiedenen Formen und gesellschaftlichen Funktionen des Antisemitismus in Verbindung mit Reflexionsangeboten für Beschäftigte hinsichtlich ihrer heterogenen biografischen Bezüge zu historischem und gegenwärtigem Antisemitismus. Wollen Erzieher*innen wirksam und kritisch auf Antisemitismus reagieren, müssen sie sich mit ihren eigenen Haltungen und Bezügen, Deutungen und bisherigen Handlungsmaximen befassen und ihr Wissen erweitern. Die Prämisse der Selbstreflexion kann von der Notwendigkeit geleitet sein, das Gefühl der biografischen Distanz, des Unbehagens zu verstehen und zu überwinden.

5.2. Schutz

Antisemitismuserfahrungen können das die Identitätsentwicklung, das Wohlbefinden und psychische Verfassung junger Kinder langfristig beeinträchtigen. Die UN-Kinderrechtskonvention beinhaltet daher ein Recht auf Schutz vor allen Formen von Gewalt für alle Kinder und Jugendlichen, so auch in institutionellen Kontexten (vgl. Artikel 19, UN-Kinderrechtskonvention). Der Schutz vor Gewalt und Diskriminierung impliziert, dass in Interventionen gegen Antisemitismus der Schutz Betroffener konsequent mitgedacht wird. Die Entwicklung von professionellen Kompetenzen für betroffenenorientierte Interventionen kann nicht individuell von einzelnen Personen erwartet werden. Vielmehr geht es um einen multiprofessionellen Auftrag, der die Kita als Einrichtung betrifft. Schutzkonzepte regeln den Umgang mit Kindeswohlgefährdung und Gewalt in einer Institution unter Berücksichtigung der Betroffenenperspektiven. Der Ursprung des Konzepts unter diesem Namen geht zurück auf die Verpflichtung, Kinder in Einrichtungen der Bildung und Erziehung vor sexuellen Übergriffen zu schützen. Ein Schutzkonzept für Kindertagesbetreuung beinhaltet unter anderem einen Handlungs- und Notfallplan, Präventionsangebote für Kinder, Beschäftigte, Eltern und Erziehungsberechtige. Das Konzept dient grundsätzlich der Sicherung der Rechte und des Wohls von Kindern und soll dazu beitragen, dass Fachkräfte die Gefährdung erkennen und Intervention unverzüglich planen können. Bei Rassismus oder Antisemitismus greifen herkömmliche Schutzkonzepte nicht, da diese Diskriminierungsformen nicht zwingend als Gefährdung oder Bedrohung, sondern im besten Fall als abstrakte Einstellungen oder Konflikte eingeordnet werden (vgl. OFEK 2022). Die Entwicklung von Schutzkonzepten zu Antisemitismus setzt deshalb einen neuen Rahmen fest und kann mittels Maßnahmen zu Bestandsaufnahme, Planung und Institutionalisierung angeregt und im partizipativen Dialog mit den Kindertagestätten und/​oder Trägern frühkindlicher Betreuungseinrichtungen entwickelt und implementiert werden.

5.3. Verfahren

Der Umgang mit antisemitischen Vorfällen und Strukturen fußt auf Qualitätsmerkmalen. In der Bearbeitung vorgefallener Situationen ist die proaktive, offene Kommunikation mit betroffenen Eltern und die Übernahme der Verantwortung, die auch das Benennen von Antisemitismus einschließt, zentral. In der Praxis kommt es vor, dass die Verantwortungsträger den Tatbestand des Antisemitismus missverstehen, oder auslassen. Es ist jedoch wichtig, die Beschwerden der Eltern zu würdigen, den Blickwinken der Kinder und ihrer Familien zuzulassen und die Betroffenenperspektiven nicht infrage zu stellen. Die Fähigkeit, antisemitische Vorfälle selbstkritisch einzuordnen und nicht individualistisch zu erklären, ist das zentrale Qualitätsmerkmal einer antisemitismuskritischen Kitakultur.

Folgender Leitfaden besteht aus drei Schritten – die Bestandsaufnahme der eigenen Einrichtung, Planung der anvisierten Ziele und Schritte sowie Maßnahmen der Verstätigung diverser und (antisemitismus-)kritischer Kitakultur.

Bestandsaufnahme

  • Antisemitismus erkennen lernen: Um Antisemitismus nicht nur auf der Ebene von einzelnen Vorfällen, sondern auch als Teil der Strukturen zu erkennen und zu verstehen, ist es ratsam, sowohl eigene Haltungen und Positionen als auch institutionelle Regeln, Routinen, Arbeitsabläufe, Sprache, Lernumgebung, Lernmaterialien und Lernumgebung antisemitismuskritisch zu reflektieren.
  • Bestehende Leitbilder und Schutzkonzepte überprüfen: Antisemitismuskritik bezieht sich nicht nur auf Einstellungen Einzelner, sondern richtet sich auf die Organisation als Ganzes. Um Umgang mit Antisemitismus in Konzepten und Leitbildern zu verstetigen, ist es ratsam, die bestehenden Konzepte auf diesen Aspekt hin zu untersuchen und Leerstellen zu identifizieren.

Planung

  • Prävention gegen Diskriminierung planen und umsetzen: Sind konkrete Dimensionen von Antisemitismus aufgedeckt und analysiert worden, können präventive Strategien konzipiert werden. Diese betreffen die Frage nach der Thematisierung von Judentum, jüdischen Feiertagen, jüdischer Tradition wie auch Grundsätze und Leitziele, die auf Antisemitismus als gleichberechtigte Form der Diskriminierung fokussieren und Repräsentation sowie Schutzgedanken aufgreifen.
  • Schulungs- und Beratungsformate planen und durchführen: Antisemitismuskritik muss geübt werden. Maßnahmen wie Intervision, Supervision, regelmäßige Fortbildung und Bereitstellung von Infomaterialien dienen der Qualitätssicherung im eigenen und kollegialen Handeln.
  • Interventionsschritte festlegen und implementieren: grundsätzlich sind Prävention und Intervention eng miteinander verknüpft. Dennoch handelt es sich bei der Intervention um reaktive Maßnahmen, die nach Diskriminierung eingesetzt werden. An dieser Stelle ist es ratsam, einen Leitfaden zu entwickeln, welcher die Schritte genau beschreibt und einen Rahmen vorgibt. (hier Link zu dem bereits bestehenden Part in der Broschüre Im Idealfall geht es um die Festlegung von klaren Regeln für den Umgang mit Vorfällen, um die Vernetzung mit externen Beratungsstellen zwecks Verweisberatung, um die Stärkung von betroffenen Kindern und Familien.

Institutionalisierung

  • Geregelte Beschwerde- und Dokumentationsverfahren entwickeln: Betroffenen steht grundsätzlich ein Beschwerderecht zu. Wie dieses in Kitas umgesetzt wird, ist dem Träger bzw. der Kindertagestätte überlassen. Es ist möglich und ratsam, sich bei externen Beratungsstellen, die sich auf die Beratung bei Antisemitismus spezialisieren (z.B. der Beratungsstelle OEFK e.V.) zu beschweren oder betriebliche oder staatliche Anlaufstellen aufzusuchen (u. a. die Antidiskriminierungsstelle des Bundes).
  • Kitakonzepte erstellen und begleiten: Für die einzelnen Kitas ist es ratsam, ein eigenes Konzept für Beschwerde- und Dokumentationsverfahren zu entwickeln, um Betroffene noch effektiver zu schützen. Das Konzept umfasst Regeln der internen Kommunikation, wenn es eine Beschwerde gibt, und regelt weitere Schritte wie die der Mediation, Verweisberatung oder Meldung.

6. Fazit

Antisemitische Vorfälle sollten nicht der einzige Grund dafür sein, sich gegen Antisemitismus einzusetzen. Ein antisemitismuskritischer Professionalisierungsanspruch bedarf einer systematischen, fortlaufenden, niedrigschwelligen Schulungskultur sowie fallbezogener und praxisbegleitender Supervision sowie anlassbezogener Fallberatung. Die Auseinandersetzung mit Antisemitismus in der Kita mit dem Blick auf Betroffenenperspektiven ist ein neues Handlungs- und Forschungsfeld. Es bedarf einer fachlichen Diskussion und weiterer Forschung sowie auch praktischer Begleitung von Kindertageseinrichtungen.7 Nicht nur die pädagogischen Fachkräfte, sondern auch die Einrichtungsleitungen sollten darin unterstützt werden, (antisemitismuskritische) Organisationsentwicklungsprozesse zu initiieren und zu verstetigen. Mit dem Grundsatz der Kritik wird versucht, die kritische Selbstreflexivität als Voraussetzung für die Entwicklung und Umsetzung neuer Sichtweisen und Handlungsperspektiven auf Antisemitismus zu etablieren. Eine machtkritische Reflexion über eigene Bilder und Vorstellungen kann helfen, den unsichtbaren institutionalisierten Formen von Antisemitismus auf die Spur kommen und diese zum Ausgangspunkt der institutionellen Beschäftigung mit Antisemitismus zu machen. Es braucht jedoch transparente Verfahren, wie in Fällen von Antisemitismus vorzugehen ist und welche Schritte und möglicherweise auch Sanktionen eingeleitet werden sollten.

Quellen:

  • Becher, Andrea (2008): Holocaust und Nationalsozialismus im Sachunterricht thematisieren. Konsequenzen aus einer qualitativ-empirischen Studie zu Vorstellungen von Kindern. In: www​.wider​stre​it​-sachunter​richt​.de, Nr. 11/​Oktober, 11 Seiten [29.01.2024].
  • Bostanci, Seyran/​Biel, Christina/​Neuhauser, Bastian (2022): Ich habe lange gekämpft, aber dann sind wir doch gewechselt“: Eine explorativ-qualitative Pilotstudie zum Umgang mit institutionellem Rassismus in Berliner Kitas. NaDiRa Working Paper 1, Berlin: Deutsches Zentrum für integrations- und Migrationsforschung (DeZIM).
  • Chernivsky, Marina/​Lorenz, Friederike (2020): Antisemitismus im Kontext Schule – Deutungen und Umgangsweisen von Lehrer*innen an Berliner Schulen, Berlin: Kompetenzzentrum für Prävention und Empowerment. Berlin.
  • Chernivsky, Marina/Lorenz-Sinai, Friederike/​Schweitzer, Johanna (2022): Von Antisemitismus betroffen sein. Deutungen und Umgangsweisen jüdischer Familien und junger Erwachsener. Weinheim: Beltz.
  • Chernivsky, Marina/Lorenz-Sinai, Friederike (2024): Institutioneller Antisemitismus in der Schule. Baustein 14, Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage. Aktion Courage e.V., Berlin.
  • Handbuch Erkennen. Einordnen. Unterstützen“. OFEK e. V. – Beratungsstelle bei antisemitischer Gewalt und Diskriminierung (Hrsg.). Berlin 2023.
  • Koch, Christina (2017): Wissen von Kindern über den Nationalsozialismus. Eine quantitativ empirische Studie im vierten Schuljahr. Berlin.
  • Wiegemann, Romina (2022): Die Thematisierung der Shoah in der Grundschule – Eine antisemitismuskritische Perspektivierung. In: Chernivsky, Marina/Lorenz-Sinai, Friederike (Hrsg.): Die Shoah in Bildung und Erziehung heute. Weitergaben und Wirkungen in Gegenwartsverhältnissen. Opladen, Berlin & Toronto, S. 175189.
  1. Die Bundesländerstudienreihe zum Thema Antisemitismus im Kontext Schule“ wird unter Leitung von Marina Chernivsky und Friederike Lorenz-Sinai im Rahmen am Kompetenzzentrum für antisemitismuskritische Bildung und Forschung in fester Forschungskooperation mit der Fachhochschule Potsdam seit 2018 umgesetzt. ↩︎
  2. Zitat aus dem Datenmaterial und Studienbericht von Marina Chernivsky und Friederike Lorenz-Sinai zu Antisemitismus im Kontext Schule in Sachsen (derzeit im Erscheinen). ↩︎
  3. Zitat aus dem Datenmaterial und Studienbericht von Marina Chernivsky und Friederike Lorenz-Sinai zu Antisemitismus im Kontext Schule in Sachsen (derzeit im Erscheinen). ↩︎
  4. UN-Kinderrechtskonvention, Art. 19 UN-KRK.↩︎
  5. Standpunkte: Nr. 0207÷2021. Antidiskriminierungsstelle des Bundes: https://​www​.antidiskri​m​inierungsstelle​.de/​S​h​a​r​e​d​D​o​c​s​/​d​o​w​n​l​o​a​d​s​/​D​E​/​p​u​b​l​i​k​a​t​i​o​n​e​n​/​S​t​a​n​d​p​u​n​k​t​e​/​02​_​K​i​n​d​e​r​t​a​g​e​s​b​e​t​r​e​u​u​n​g​.​p​d​f​?​_​_​b​l​o​b​=​p​u​b​l​i​c​a​t​i​o​n​F​i​l​e&v=4 ↩︎
  6. Ebd.: Das AGG schränkt die Vertragsfreiheit der Träger ein – bei Abschluss, Durchführung oder Beendigung eines Betreuungsvertrags verbietet §19 Absatz 2 AGG die Benachteiligung wegen rassistischer Zuschreibung und ethnischer Herkunft.↩︎
  7. Siehe hierzu der Programmflyer mit der Beschreibung des Bildungsprogramms vom Kompetenzzentrum für antisemitismuskritische Bildung und Forschung: https://​zwst​-kom​pe​tenzzen​trum​.de/​w​p​– c​o​n​t​e​n​t​/​u​p​l​o​a​d​s​/​2023​/​12​/​231128​_​K​o​Z​e​_​B​r​o​s​c​h​u​e​r​e​_​D​I​N​– A​5​_​B​i​l​d​u​n​g​s​p​r​o​g​r​a​m​m​e​_​W​e​b​– e​i​n​z​e​l​n.pdf ↩︎